Helmut Eisendle

geboren 1939 in Graz, gestorben 2003 in Wien. »Ich sehe im Theater eine Möglichkeit, sinnvolle radikalrealistische Simulation gesellschaftlicher Tatsachen oder Tendenzen durchzuführen«, erklärte der promovierte Psychologe, als er 1971 mit seinem ersten Bühnentext A VIOLATION STUDY in den Verlag kam. Über das »Schock-Stück«, das »die Leute aus dem Theater trieb« (Der Spiegel), notierten damals die Salzburger Nachrichten: »Endlich! Da wird über Engagement geredet … und dann kommt einer und beschreibt Veränderungen, Manipulation, die am menschlichen Individuum täglich, stündlich vorgenommen werden, damit das ›Gesellschaftssystem‹ sich stabilisiere, pfeift auf Ästhetik. Und das am Theater – es ist nicht zu glauben!« In 33 Jahren... schriftstellerischer Tätigkeit schuf der »Vorwärtsbringer der österreichischen Literatur« (FAZ) 40 Romane, über zwanzig Hörspiele und fünf Theaterstücke.


Werke

2H (Statisten)
UA: Vereinigte Bühnen Graz, 18.10.1972. R: Gert-Hagen Seebach
Die Szene ist ein labormäßig eingerichteter Raum, in dessen Mitte sich ein Käfig aus Glas befindet. An dem Versuch nehmen teil: eine Person namens Karl, vier Hilfskräfte und ein Sprecher. Analysiert wird Verhaltensänderung. Die Methoden, mit denen hier jeweils Änderungen bewirkt werden, sind bestimmten Gesetzen unterworfen, die auch unser Verhalten bestimmen und regulieren. Darin liegt der "Realitätscharakter" der Dokumentation. In ihr haben Wort und Sprache keine "literarischen" Funktionen mehr, sondern werden lediglich als verbales Verhalten aufgefasst. Eisendle selbst über sein Stück: "Diese ganze Dokumentation hat nur die Aufgabe, Reaktionen bei den Zuhörern zu erzeugen. Eventuell Reaktionen, die wiederum Auslöser für weitere Reaktionen (zum Beispiel Gedanken) sind. Mehr soll das Ganze nicht sein. Auf keinen Fall Theater und auf keinen Fall Kunst."
2H (Statisten)
4H
Ein Engländer, ein Amerikaner, ein Österreicher und ein Deutscher sitzen an einem Tisch... Was wie der Auftakt zu einem politischen Witz klingt, ist in Helmut Eisendles "Farce für vier Personen" die Ausgangsposition für eine raffinierte Dramaturgie, die sich an den Regeln des Gesellschaftsspiels "Der Turm von Hanoi" orientiert: Vier Objekte müssen von Position A über B nach C gelangen und dort, bei C, die gleiche Stellung einnehmen, die sie bei A hatten. Position A, das heißt in AMOKLÄUFER: Alle vier Personen sitzen gemeinsam um einen von drei Tischen und schweigen. Das Spiel geht über mehrere Ebenen, die einander überschneiden: Die Positionen der Darsteller ändern sich ebenso von Szene zu Szene, wie ihre Konstellation und Redesituation. Jeder der vier muss sich von Tisch eins über Tisch zwei zum dritten Tisch bewegen, muss sich aus der Vierergruppe lösen und wieder zur Vierergruppe finden, muss vom Schweigen über Monolog und Dialog wieder zum Schweigen kommen. Die Szenen sind wie Spielzüge arrangiert.
Der Engländer, der Amerikaner, der Österreicher und der Deutsche reflektieren über große Themen: über Begriffe wie Menschlichkeit und Wahrheit, über nationale Identität und individuelles Bewusstsein, über die Vernunft des Einzelwesens und die Psychopathie der Massen, über "die Macht der Intelligenz und die feiste kleine Neurose in uns", über geschichtliche Verantwortung und politische Moral, über Deutschland und die Deutschen. Sie reizen einander mit forschen Theorien und ungeschminkten Wahrheiten.
Doch hinter diesem Arrangement, hinter glänzender Rhetorik lauern Gefahr, Zerstörung, Chaos. Die Männer haben einen Revolver, einen einzigen nur. Er wandert zwischen ihnen hin und her, als Anschauungsobjekt und Machtinstrument, als "mechanisches Wunderwerk" und Zeichen einer todbringenden Schönheit, als heißes Eisen. Einer der vier wird schießen, einer getroffen werden - das ist der Lauf der Dinge und eine Frage der Zeit: um den dritten Tisch, am Ziel, stehen nur drei Stühle.
Durch diese Gewissheit erhält das Spiel eine existenzielle Dimension und große Spannung: Verlockung zur Tat und zugleich Bedrohung sind das unhörbare Ferment jeden Dialogs, jeder Rede. In den Worten lauert die Tat, verbirgt sich die Angst. Im Normalbürger steckt der Amokläufer.
4H
2H
UA: Theater Erlangen, 1.2.1979. R: Hannes Rossa
Am Billardtisch ringen zwei Akademiker, Friedrich und Ott, mit den Kugeln und zugleich mit den Worten. Die beiden Männer denken spielend und spielen denkend. Denn in ihrem Spiel gehen Wort und Tat eine seltsam theatralische Verbindung ein: Der Redende wird in seinem Denken von dem Spiel mit der Queue ebenso eingeengt wie der Spielende von den Regeln des Billard. Das Opfer in Eisendles Groteske ist somit der Intellektuelle, der sein Leben "am grünen Tisch" entwirft und sich dabei in die Widersprüche eines von der Realität des Handelns abgehobenen Denkens verirrt. Am Schluss verlassen die beiden Billard- und Dialogpartner die Ebene der Worte und lassen die Fäuste sprechen...
2H
1D-6H
Dem Stück liegt der berühmte Fall der Anna O. zugrunde. Die Beziehung des Wiener Arztes Josef Breuer, einem Freund und frühen Mitarbeiter Freuds, zu einer 21jährigen Patientin namens Anna O., die als die erste analysierte Patientin gelten kann. Aus der karthatischen Methode, die Breuer Jahre vor Freud bei Anna O. anwandte, entwickelte sich später die Psychoanalyse.
Der Fall hat eine höchst theatralische Grundsituation: Arzt und Patient stehen sich gegenüber wie Richter und Angeklagter. Die Analyse ist der Prozess. Eisendle führt diese Analyse in drei Akten vor. Sie wird von den Beteiligten selbst als ihr "Privattheater" bezeichnet. Auf dessen Bühne spielt sich der Kampf zwischen Arzt und Patientin ab: Es ist die zunehmende Verstrickung Breuers in eine auch erotische Beziehung, die seine ärztliche Praxis zu gefährden droht. Das Drama wird eingerahmt von einer wissenschaftlichen und literarischen Diskussion des Falles durch die Kapazitäten der Zeit: Breuer selbst, Freud, Krafft-Ebbing, Möbius sowie Schnitzler und Hofmannsthal.
1D-6H
1D-6H
UA: Stadttheater Gießen, 10.9.1976. R: Horst-Gottfried Wagner
Sechs Intellektuelle - Künstler wie Wissenschaftler - in einem mondänen Hotel am Meer, in Clubsesseln Drinks schlürfernd, streiten darüber, wer die Realität am besten im Griff habe, wessen Bilder oder Denkkonstruktionen am meisten Wirklichkeit enthielten. Diese Artisten der Sprache, die sich längst ins gesellschaftliche Abseits theoretisiert haben, rivalisieren in einer Wortschlacht gegeneinander, um ihre fragwürdigen Behauptungen gegen die nicht minder fragwürdigen Behauptungen der anderen durchzusetzen. Keiner nimmt keinem etwas ab. "Die Chronik der geistigen Wunder schimmert fahl und zweideutig": Eisendles Untertitel, einem Text von Carl Einstein entnommen, stellt solches intellektuelles Virtuosentum in luftiger Höhe in Frage. Die Streitenden haben den Boden, auf dem ihre Denksysteme zur Aktion werden könnten, längst verloren. Die zweifelhafte Leistung, nichts anderesn als unaufhörlich Sätze zu produzieren und diese Sätze unaufhörlich gegen alle Welt zu behaupten, weil sonst nichts mehr bliebe, macht alles Sprechen zur blanken Aggression. So endet auch ihr Gespräch statt mit Taten bloß mit Tätlichkeit.
1D-6H
CARLO UND LANA - EINE GLEICHUNG MIT ZWEI UNBEKANNTEN
Produktion: ORF 1996
Erstsendung: 11.07.1996
PINOCCHIO AUF DER COUCH
Produktion: SFB 1994
Erstsendung: 24.09.1994
44 Min.
AMOKLÄUFER
Produktion: DS Kultur 1992
Erstsendung: 13.09.1992
37 Min.
DIE GÖTTLICHE KOMÖDIE
Produktion: SFB 1992
Erstsendung: 11.12.1992
42 Min.
MITSUBISHI UND HUGO WOLF
Produktion: SFB 1989
Erstsendung: 17.12.1989
40 Min.
DAS LÄCHELN DER MONA LISA
Produktion: SDR/RB 1988
Erstsendung: 30.06.1988
46 Min.
GÖDEL, EINSTEIN, MONK
Produktion: SFB/ORF Graz 1988
Erstsendung: 07.02.1988
39 Min.
DIE GAUNERSPRACHE DER INTELLEKTUELLEN
Produktion: ORF Wien/RB ab 1986
Erstsendung: 25.02.1986
60 Min.
OBDUKTION
Produktion: ORF Graz 1985
Erstsendung: 08.01.1985
59 Min.
WIE MAN VERSCHIEDEN GERÄUSCHE ERZEUGT
Produktion: SFB 1984
Erstsendung: 10.11.1984
70 Min.

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